LÜNEN TRAUERT UM LEON
Pfarrerin Andrea Ohm, evangelische Kirchengemeinde Horstmar-Preußen schreibt:
Die Nachricht von der schrecklichen Tragödie, die sich an der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule ereignet hat, hat Menschen in ganz Lünen und darüber hinausgetroffen.
Unsere Fürbitte gilt seiner Familie, seinen Freundinnen und Freunden, den Mitschülern/innen und Lehrern/innen der „Käthe“. In das Gebet schließen wir auch den Täter Alex ein, der so viel Leid verursacht hat und dessen Motivation wir nicht kennen.
Um solch ein traumatisches Ereignis zu verarbeiten, braucht es Hilfe und Unterstützung von außen. Ein großes Netz an professionellen Einsatzkräften war an der Schule und hat großartige Hilfe geleistet.
Eines von diesen Netzwerken ist die oekumenische Notfallseelsorge. Dieses Netzwerk unterstützen wir in unseren Gottesdiensten durch Kollekten. Ich bin in diesen Tagen besonders dankbar, dass es die Notfallseelsorge gibt und dass es Menschen in unseren Kirchen gibt, die sich dafür zur Verfügung stellen, anderen in den schlimmsten Krisensituationen, die man sich kaum vorstellen kann, zur Seite zu stellen. Einen Einblick in diese wichtige Arbeit gibt der Leiter, Willi Wohlfeil, in seinem Bericht über die ersten Tage nach dem Ereignis.
ERSTE HILFE FÜR DIE VERLETZTE SEELE
Dienstagmorgen kurz nach Acht die Leitstelle der Feuerwehr alarmiert die Notfallseelsorge. Ein Schüler hat einen anderen verletzt, wir brauchen euch an der Schule. Ich nehme den Einsatz an und informiere den Hintergrunddienst der weitere Notfallseelsorger alarmiert und bittet zur Käthe-Kollwitz-Gesamtschule zu kommen. Innerhalb kürzester Zeit machen sich Notfallseelsorgende aus dem ganzen Kreis Unna auf den Weg nach Lünen, um in einer Notsituation zu helfen, wo sie gebraucht werden.
Als ich an der Schule ankomme sind Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr schon vor Ort. Ich frage den Einsatzleiter der Feuerwehr, was passiert ist und an welchen Stellen wir helfen können. Leon (14 Jahre), ein Schüler, ist verstorben und Alex (15 Jahre) ebenfalls Schüler ist als Tatverdächtiger im Gewahrsam der Polizei. Die Augenzeugen müssen betreut werden, der fünfte Jahrgang ist im Gebäude auf der anderen Seite, die Eltern von Leon sollen durch die Kripo Dortmund benachrichtigt werden, die anderen Eltern, der Schülerinnen und Schüler, die hierher kommen, sollen in der Mensa gesammelt und betreut werden.
Nach und nach treffen acht Notfallseelsorgende ein und ich weise ihnen ihre Aufgaben zu. Sie sprechen mit betroffenen Schülerinnen, sind bei ihnen wenn die Polizei fragen hat, passen auf das niemand verloren geht, bitten die Feuerwehr um Wasser zum trinken, das manchem in solch einer Situation hilft. Sie sind bei den Schülerinnen und Schülern und reichen, wenn es gebraucht wird auch ein Taschentuch.
„Ich hätte helfen müssen! Hätte ich das verhindern können? Warum hat Alex das gemacht? Ich möchte nach Hause!“ Wortlos, Fassungslos, voller Tränen, die raus müssen … Der geschützte Raum ist da. Die Schülerinnen und Schüler sind nicht allein.
Und morgen?
Mittwochmorgen sieben Uhr. Es ist noch dunkel und nass draußen. Am Tor stehen Kerzen, liegen Blumen, weinen Menschen … Schule findet statt. Auch heute. Wenn auch anders, als gewohnt.
10 Notfallseelsorgende treffen sich im Käthe-Cafe in der Schule und bilden eine erste Anlaufstelle für belastete Schülerinnen und Schüler. Wir tauschen uns aus, schauen die Räume an, die für Einzelgespräche zur Verfügung stehen. In den vielen Gesprächen, die wir den ganzen Tag über dann führen, sind Veränderungen greifbar. Keiner muss allein dadurch, wir müssen gemeinsam diese Situation bestehen, „was können wir tun?“, „darf ich noch Lachen, wo Leon doch tot ist“. Schülerinnen und Schüler erleben: Lehrer sind auch nur Menschen und können nicht nur Mathe und Englisch unterrichten, sondern haben Gefühle, sind fassungslos und betroffen wie wir.
Die Schweigeminute um 12 Uhr wird zu einem beeindruckenden Ereignis. Hinter den weißen Tüchern die durch die Medien geistern stehen dichtgedrängt mehr als 1000 Schüler, Lehrer, Eltern, Schulpsychologen, Hausmeister, Mensaangestellte, Notfallseelsorger und Menschen aus dem Rettungsdienst. Die Glocken schlagen 12 Uhr und als wäre es das Zeichen, herrscht Stille, ein Moment des Innehaltens. Als hätte man den Stecker vom Lautsprecher gezogen, war von einer Sekunde auf die nächste, absolute Stille.
Am nächsten Tag sind wir mit 6 Notfallseelsorgern vor Ort. Es ist zu spüren das die alltäglichen Dinge mehr Bedeutung bekommen; Verliebtheitsgefühle, Vokabeln lernen müssen, über den Flur toben, laufen, fangen spielen, und immer wieder Schülerinnen und Schüler, die zu uns kommen, weil Leon gestorben ist und doch schnell klar wird, welch schweren Rucksack so mancher auch ohne das Ereignis, das uns zusammenführt mit sich rumträgt. Als Notfallseelsorger wünschten wir uns manchmal wir könnten zaubern und alles wäre gut. Aber wir können nichts auslöschen, nichts ungeschehen machen. Wir bieten an was wir können, sind da, halten aus, was die Schülerinnen erzählen von dem Vater der nach langem Krank sein gestorben ist, von den Eltern, bei denen sie nicht mehr leben müssen, von Eltern, die von ihrem Kind unerreichbares erwarten, dass es berühmt wird.
Auch am Freitag sind wir wieder da im Käthe-Cafe. Erste Schüler warten schon auf uns. Es hat ihnen gut getan zu reden. Sie wollen mehr davon. Um 13 Uhr, alle Schüler sind auf dem Weg nach Hause. Wir beenden nach 4 Tagen den Präsenz-Einsatz der Notfallseelsorge um der Normalität, die Sicherheit gibt, mehr Raum zu lassen.
Was brauchen Kinder und Jugendliche in solchen Krisen?
Menschen, die Ihnen zuhören und für sie da sind. Menschen, die ihre Gefühle aushalten und sich Hilfe holen, wo sie nicht mehr weiter wissen. Menschen, die respektieren, wenn sie grade lieber mit Freunden, als mit Erwachsenen reden wollen. Menschen, die ihnen helfen selber aktiv, helfend zu sein. Menschen, die ein Auge haben auf sie, ohne sie mit ihren eigenen Ängsten zu beladen.
Pfarrer Willi Wohlfeil Synodalbeauftragter NFS Heinrich-Kempchen-Straße 2 59174 Kamen |
Telefon: 02307/9308675 Handy: 0177/5663043 |
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